Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.
Plötzlich
war da dieser Schimmel
Mit
Ende 20 erkrankt Micha Stiegler an einer seltenen Form der Demenz.
Erst nach Monaten in der Psychiatrie stellen die Ärzte die richtige
Diagnose: FTD. Sie ist hoffnungslos.
Wolf Schmidt, die
tageszeitung, 06.01.2010
I leg mi aufs
Hausbankerl, Papa", sagt Micha. "Mach des, Micha",
antwortet der Vater.
Das Hausbankerl ist
Michas Lieblingsort. Er sucht es jeden Tag auf. Fünf Mal. Zehn Mal.
Aber immer nur für wenige Minuten. Er liegt dann auf der Bank vor
dem Haus seiner Eltern, den Kopf auf der Metalllehne. Ohne Kissen,
ohne Decke, auch wenn die Temperatur kaum über null ist. Hektisch
kaut er auf einem rosa Kinderzahnpflegekaugummi herum. Gut zwanzig
Stück davon kaut er. Jeden Tag.
Sein Kiefer mahlt,
mahlt, mahlt. Die Augen sind geschlossen. Was geht nur in seinem Kopf
vor? Was bekommt er von der Welt um ihn herum noch mit? Und wie viel
von dem alten Micha steckt in diesem Körper noch?
Plötzlich springt
er auf und will einen Salat essen. Sofort. Micha setzt sich mit einer
großen Schüssel an den Wohnzimmertisch. Kein Essig, kein Öl, nur
Blätter. Er stopft sich mit den Händen eines nach dem anderen in
den Mund, kaut, kaut, kaut. Keine zwei Minuten und die Schüssel ist
leer. "I leg mi no mal naus, Papa", sagt er. "Ja,
Micha", antwortet der Vater.
So geht das den
ganzen Tag.
Micha Stiegler*, 31,
leidet an einer seltenen Krankheit, die in wenigen Jahren zum Tod
führt: der Frontotemporalen Demenz. Sie ist eine besonders tückische
Krankheit, da sie meist schon vor dem 60. Lebensjahr ausbricht. So
früh wie bei Micha bricht sie nur ganz selten aus, vielleicht gerade
einmal bei einer Handvoll Fälle in ganz Deutschland, sagt die
behandelnde Psychiaterin.
Die Krankheit ist
auch so tückisch, weil die Ärzte sie oft erst spät erkennen.
Anders als bei Alzheimer sterben bei der Frontotemporalen Demenz
vorne im Stirnhirn nach und nach die Nervenzellen ab. Deshalb leidet
zunächst nicht das Gedächtnis oder der Orientierungssinn. Es leidet
die Persönlichkeit. Das Verhalten ändert sich. Das Ich stirbt ab.
Bei Micha Stiegler
hat die Krankheit vor etwa drei Jahren angefangen. Gewissheit, was
mit ihrem Micha los ist, hat die Familie Stiegler aber erst seit dem
Frühjahr 2009. So lange dauerte es, bis die Ärzte herausfanden,
dass er an Frontotemporaler Demenz erkrankt ist, kurz: FTD.
Es fing mit einer
panischen Angst vor Schimmel an. Immer wenn er einen schwarzen Punkt
sieht oder etwas Weißes, vermutet Micha Stiegler Schimmel. Auf dem
Brot. Im Joghurt. An den Äpfeln. Ständig spült er Becher aus, Müll
trägt er sofort nach draußen. Er wäscht sich zigmal die Hände,
duscht endlos. Er wird wegen der Zwänge später eine
Verhaltenstherapie anfangen, aber sie hilft ihm nicht. Wie soll sie
auch? Seine Krankheit ist schlimmer. Viel schlimmer.
Irgendwann fängt
Micha an, Frauen mit sexuellen Sprüchen zu belästigen. Ob er sie
nicht mal besamen soll, fragt er eine Kollegin auf der Arbeit. Er
wird abgemahnt. Und tut es wieder. Was ist nur mit ihm los?
Im Sommer 2008
landet Micha Stiegler in der Psychiatrie. Der Verdacht:
Schizophrenie. Er wird am Ende sieben Monate in stationärer
Behandlung bleiben, vollgepumpt mit Neuroleptika. Aber die
Medikamente bringen nichts, sie sedieren ihn nur und lassen sein
Gesicht aufquellen, wie Fotos von Weihnachten vor einem Jahr zeigen.
Sein Blick darauf ist unendlich leer. Erst weitere Aufnahmen von
Michas Hirn im Frühjahr 2009 bringen Gewissheit. Die Bilder der
Tomografen zeigen: das Stirnhirn schrumpft. Diagnose: FTD. Keine
Therapie und kein Medikament können die Krankheit aufhalten.
Micha Stiegler lebt
seitdem wieder im Haus seiner Eltern in den bayerischen Voralpen.
Vater Johannes Stiegler ist in Ruhestand und kann sich so tagsüber
um ihn kümmern, während Mutter Maria zur Arbeit geht. Allein lassen
wollen die Stieglers ihren Micha nicht mehr, zu Hause nicht und im
Ort nicht.
Micha Stiegler hat
verlernt, was angemessen ist und was nicht, was richtig ist oder
falsch, gut oder böse. Er pinkelt bei offener Toilettentür. In
Restaurants schnappt er sich einfach eine Pommes von einem anderen
Teller. Er fängt plötzlich mitten in einem Laden mit Schuhplatteln
an. Und wenn Geld herumliegt, steckt er es ein. "Er ist wie ein
unerzogenes Kind", sagt der Vater.
Im Ort können sie
nichts mit der Erkrankung anfangen. Vater Stiegler hat aber auch
keine Lust, den Leuten alles auf die Nase zu binden. Wenn sie mal
fragen würden: Was hat denn der Micha? Wie geht's ihm? Dann würde
er es ihnen vielleicht erklären. Aber sie fragen ja noch nicht
einmal. Sie wenden sich ab.
Früher war Micha
Stiegler ein fröhlicher Mensch, erzählt sein bester Freund. Heute
lacht Micha nicht mehr. Die Emotionen sind wie abgestorben. Alles
scheint ihm egal zu sein. Nachrichten, die Zeitung, Filme. Wenn er
Fernsehen schaut, dann nur Viva und MTV, er zappt dann hektisch
zwischen den beiden Musiksendern hin und her.
Man kann neben Micha
sitzen und mit seinem Vater über seine Krankheit reden: Er reagiert
nicht. Bekommt er nicht mit, dass es um ihn geht? Was nimmt er
überhaupt noch bewusst wahr? Micha kennt noch die Namen und die
Gesichter von Bekannten. Oder auch von Orten, an denen er schon war.
Aber ein Gespräch mit ihm zu führen, ist kaum mehr möglich.
Was sind Sie von
Beruf?
"Controller."
Was macht ein
Controller so?
"Copy, Paste."
Schon wendet er den
Blick ab und murmelt: "Nach der Ebbe kommt die Flut". Das
ist aus dem Lied "Mensch" von Grönemeyer. Er macht so was
öfter. Plötzlich platzen Zitate aus ihm heraus. "Wie kommst da
jetzt drauf, Micha?", fragt ihn der Vater dann. "So halt",
sagt Micha.
An der Ampel wartet
ein Lkw. "RO-KY" steht auf dem Nummernschild. Micha sagt
plötzlich: "Rocky. Rocky Balboa."
Micha Stiegler ist
von einer inneren Unruhe getrieben, die sich nur schwer beschreiben
lässt. Der Vater spielt mit ihm "Mensch ärgere dich nicht".
Nach drei Mal würfeln sagt Micha: Machen wir was anderes? Sie gehen
Spazieren, nach wenigen Schritten sagt Micha: Gehen wir wieder heim?
Sein Leben besteht
aus Ritualen, die er wiederholt und wiederholt. Essen. Kaffee.
Spazieren. Und immer wieder raus aufs Hausbankerl. Aber er kann keine
Tätigkeit auskosten, er hakt sie nur ab. Zwischendurch stopft er
Süßigkeiten in sich rein, Duplo oder Maoam. Gleich danach kaut er
einen seiner Zahnpflegekaugummis. Um sich innerlich zu reinigen,
vermutet der Vater.
Johannes Stiegler
erträgt all das mit stoischer Liebe.
"Sagst es dann,
wenn's Suppe gibt, Papa"?
"I sag's dir,
wenn's die Suppen gibt."
"Sagst es dann,
ge?"
"Ja, mach i."
"Dauert nimmer
lang, ge?"
"Des krieg mer
scho."
Aber anfassen, ihn
umarmen: das darf der Vater nicht. Micha lässt sich nicht mehr gerne
berühren, von Fremden schon gar nicht. Gute-Nacht-Sagen muss immer
Mutter Maria Stiegler kommen, gleich nach dem Abendessen um halb
sieben. Vorher geht Micha aber noch zu seinem Opel und prüft, ob die
Fenster zu sind. Jeden Abend.
Manchmal fahren die
Stieglers mit Micha nach München. Dort hat er studiert. Dort ist
auch sein Lieblingscafé, die Bar Centrale in der Nähe des
Marienplatzes. "Ein kleines Stück Italien", hat er es
immer genannt. Es gibt dort kleine Tischchen und Lämpchen, an einer
Wand hängt ein Bild der Radlegende Fausto Coppi. Auch Micha Stiegler
ist früher viel Rad gefahren, am liebsten am Gardasee. Heute ist der
Café-Besuch nur noch eines seiner Rituale. Er bestellt den
Cappuccino schon beim Reinkommen und trinkt ihn mit großen Schlucken
aus, den Milchschaum leckt er aus der Tasse. Keine halbe Minute
dauert das, dann sagt er: "Geh mer wieder?"
Noch nehmen die
Stieglers ihren Micha überall hin mit. Auf dem Computer haben sie
Bilder vom vergangenen Jahr gespeichert. Am Strand in Italien. Auf
dem Oktoberfest. In den Bergen. Immer ist Micha mit dabei.
Aber wie lange geht
das noch?
Vater Stiegler hat
sich im Internet informiert. Er hat die Broschüren gelesen. Er weiß,
was bald schon droht. Inkontinenz. Aggressivität. Sprachstörungen
bis zum Verstummen. Gehprobleme. Bettlägrigkeit. Schluckstörungen.
"Wenn man des alles so liest … ", sagt Johannes Stiegler
und fängt an zu schluchzen.
Die Schluckstörungen
sind es auch, die bei vielen FTD-Kranken zum Tod führen.
Essensbrocken landen in der Luftröhre und lösen eine
Lungenentzündung aus. Manchmal bleibt die Todesursache aber auch
unklar. Doch dass der Tod kommt, ist unabwendbar. Die Lebenserwartung
vom Beginn der Krankheit an liegt im Schnitt bei sechs bis acht
Jahren. Bei Jüngeren verläuft sie oft sogar noch schneller.
Johannes Stiegler
kennt diese Zahlen. Und natürlich hat er sich das früher ganz
anders vorgestellt: Dass der Micha sich um ihn kümmert, wenn er alt
wird und stirbt. Jetzt muss der Vater seinen Sohn pflegen und
zusehen, wie er stirbt. Sie halten das irgendwann nicht mehr aus,
haben die Ärzte zu ihm gesagt. Aber Johannes Stiegler will seinen
Micha so lange zu Hause behalten, wie es nur geht. Er hat sich ein
Heim angeschaut. Er kann sich das nicht vorstellen. Er sagt: "Im
Altenheim san Alte."
Noch ist Micha
Stiegler körperlich fit. Er ist ein kräftiger Kerl mit kurzen
blonden Haaren. Ein schöner Mann. Jeden Nachmittag macht er Sport.
Noch so ein Ritual. Er holt sich dann seine orangefarbene Jacke,
zieht die Kapuze über den Kopf und läuft drei Mal ums Haus, den
Berg auf der einen Seite hoch und auf der anderen wieder runter. Auch
bei strömendem Regen.
Oben in Michas
Zimmer steht ein Bild, das ihn bei einem Mountainbike-Rennen am
Gardasee zeigt. Daneben sieht man ihn als Jugendlichen mit seinem
Handballteam. Er steht in der Mitte der Mannschaft.
Von seinen alten
Freunden ist nur einer geblieben, der ihn regelmäßig besucht.
Über Michas Bett
hängen Fotos aus New York vor neun Jahren. Seine Exfreundin ist
darauf zu sehen. Sie lächelt.
Mit der Krankheit
ist die Beziehung in die Brüche gegangen, noch bevor die tödliche
Diagnose feststand. Für Micha sind die beiden immer noch ein Paar.
* Alle Namen
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